«Wer nicht lachen kann, entdeckt nichts»
Marcel Tanner hat mehr als 35 Jahre Erfahrung in der Forschungszusammenarbeit mit Ländern des Südens. Für ihn ist klar: Ohne Flexibilität, gegenseitigen Respekt und Kontextwissen geht es nicht.
Marcel Tanners Bleistifthalter ist ein Land Rover-Getriebeteil – ein Andenken an die grösste Reparatur, die er auf seinen Forschungsaufenthalten vornehmen musste; im April 1982 in Tansania sei das gewesen, erinnert er sich. Seit Anfang Jahr ist er pensioniert. Theoretisch. Vom Direktorenbüro des Swiss Tropical and Public Health Institute (Swiss TPH) in Basel ist er in ein kleineres umgezogen. Kunstobjekte zeugen von Arbeitsaufenthalten in Afrika, Asien und Lateinamerika. Doch Tanner begnügt sich nicht damit, Enkel zu hüten. Zu viel hat er noch vor. Und er wartet nicht auf vor bereitete Fragen, um von der Forschungszusammenarbeit zu erzählen.
MARCEL TANNER: Der Gründer unseres Instituts, Rudolf Geigy, begann 1944 in Tansania nicht zu medizinischen, sondern zu ethnologischen Fragen zu arbeiten. Aber wenn man schaut, wie Menschen leben, kommt man eben bald einmal auf das Thema Gesundheit. Unser Ansatz war immer: Wir iegen nicht mit einer fertigen Fragestellung ein, sondern entwickeln die Forschungsfragen gemeinsam mit den Leuten vor Ort. Man braucht gute Ortskenntnisse; no roots, no fruits.
Hatten Sie nicht auch Ihre fertige Fragestellung im Gepäck, als Sie 1979 erstmals nach Afrika kamen?
Das war ein Schlüsselerlebnis: Wir suchten in Kamerun nach einem neuen Diagnostikum für die Flussblindheit, eine Wurmerkrankung. Wir gingen in die Dörfer, wo befallene Leute lebten, und behandelten sie. Da stellten wir fest, dass diese Leute noch ganz andere Probleme und Anliegen hatten als diese Würmer und dass es nicht sinnvoll ist, nur eine Krankheit isoliert anzugehen. Nach dieser Erfahrung wechselte ich von einer Immunologie, die sich in Afrika ihr Material holt, zu Epidemiologie und Public Health, die sich für Systemkontexte interessieren und in Partnerschaften Grundlagen und Lösungen erforschen – im Sinne eines gegenseitigen Lernens für die Veränderung.
Haben viele Forscher diese Offenheit, ihre Fragestellung zu ändern?
Ich schicke meine Master und Doktorandenstudenten wenn immer möglich ins Feld hinaus. Es muss nicht in Afrika sein: Auch wenn es im Lützeltal Parasiten im Trinkwasser hat, muss man mit allen möglichen Betroffenen zusammenarbeiten. Wenn man die Leute hinaus schickt und arbeiten lässt, können sie ihre Fragestellung den Umständen anpassen. Aber mit den Geldgebern ist das tatsächlich nicht immer einfach. Wer Fördergelder vergibt, hat eben meist keinen «Dreck an den Schuhen» und versteht den Kontext kaum.
Aber Afrika ist ja schon nicht das Lützeltal?
Interkulturelle Zusammenarbeit entsteht, wenn man zusammenarbeitet. Da braucht es keine Seminare über Interkulturalität und keine Feel-me-touch-me-Workshops. Damit tötet man nur die Freude an der Arbeit. Aber die Freude ist entscheidend. Um zu forschen, müssen Sie neugierig sein. Sie müssen Ihre Erkenntnisse gern mit an dern teilen, und Sie müssen etwas bewirken wollen. Wenn man in einem Gebiet mit einer Million Einwohnern dazu beiträgt, die Kindersterblichkeit um ein Drittel zu senken, weiss man, was man getan hat. Wer keine Freude hat, nur die Probleme sieht und nicht lachen kann, wird nichts entdecken. Und die Freude hilft dann auch, wenn es mal nicht rund läuft und man einen ganzen Tag rumrennt, um Diesel für den Generator des Labors zu finden. In solchen Situationen lernt man viel.
Wenn Sie gelernt haben, im Busch Diesel aufzutreiben, nützt Ihnen das in der Schweiz nichts.
Doch, denn man lernt, sich selbst zu helfen und mit operationellen Krisen umzugehen. Heute wollen viele Schweizer, bevor sie nach Afrika gehen, alle Eventualitäten geklärt haben, wollen wissen, wer ihnen die Pampers für ihre Kinder liefert – statt einfach zu gehen und sich vor Ort zu organisieren.
Das tönt alles gut. Aber es gibt auch kulturbedingte Schwierigkeiten.
Und wie, im Kleinen wie im Grossen! Die afrikanische Kultur funktioniert bouche à l’oreille, da antwortet man nicht immer sofort. Wenn ich auf meine E-Mails keine Antwort bekomme und keine Kommunikation zustande kommt, ist das schon lästig. Manchmal scheitert man an den politischen Realitäten. Im Tschad haben wir ein umfassendes Programm mit Nomaden. Wir waren auf gutem Weg eines institutionellen Aufbaus. Wir erwarteten, dass die Regierung sich beteiligt, auch finanziell. Aber dann kam nichts. Zumindest im geplanten Umfang wird aus dem Programm nach acht Jahren Planung mit allen Beteiligten nichts.
Gibt es in armen Ländern genug gut ausgebildete Leute?
Die Ausbildung ist das grösste Problem. Wir haben oft Studenten aus armen Ländern, die sind gut auf ihrem Fachgebiet, aber sie verfügen nicht über ein breites Wissen. Dem kann man abhelfen, aber die Dissertation dauert dann halt länger, und der Geldgeber muss bereit sein, länger zu zahlen. Aber es lohnt sich: Leute gut ausbilden ist der grösste «Impact», den es gibt – viel wichtiger als Impact-Factor und H-Index Selbstglorifizierungen.
Die Wissenschaft mit ihren Methoden und kulturellen Codes ist in unserem Kulturkreis entstanden. Ist da nicht jede wissenschaftliche Zusammenarbeit von vornherein asymmetrisch?
Absolut. Es fragt sich einfach, wie man damit umgeht. Unsere geheiligten wissenschaftlichen Standards sind ja auch nicht über alle Zweifel erhaben, denken Sie an die Probleme mit der Peer-Review, an die nutzlosen Impact Factors... Wenn man einander zuhört, können gemeinsame Codes entstehen. Das dauert aber unter Umständen Generationen, deshalb ist langfristiges Engagement so wichtig. Und dazu braucht es Respekt; ohne Respekt gibt es auch kein Vertrauen. Das schlimmste sind westliche Consultants, die keine Ortskenntnisse haben, aber immer alles schon wissen.
Warum braucht es ein Tropeninstitut in der Schweiz? Können sich die Betroffenen nicht selber helfen?
Das Wort «helfen» muss man gleich vergessen. Als die Bildungs-, Forschungs- und Innovationsbotschaft 2008/2011 erstmals die Forschungszusammenarbeit mit Entwicklungsländern enthielt, sagten Kritiker: Man soll nicht aus dem Forschungsbudget Entwicklungshilfe finanzieren. Aber darum geht es nicht. Wenn Sie sehen, wie ein Land pro Einwohner und Jahr 15 Franken für das Gesundheitswesen zur Verfügung hat, dann lernen Sie auch Wertvolles für das hiesige Gesundheitswesen mit seinen 7000 Franken pro Kopf. Nicht um Hilfe geht es, sondern um das gemeinsame Lernen durch comparing and sharing.
Wird Ihre Botschaft gehört?
Ja. Ich begleitete beispielsweise kürzlich eine Gruppe Parlamentarier nach Tansania, von den Grünen bis zur BDP. Wir gingen zu den Projekten, nicht nur in «high level meetings». Das überzeugte auch die Skeptiker vom Sinn unserer Arbeit und vom Wert des partnerschaftlichen Vorgehens.
Marcel Hänggi, freier Wissenschaftsjournalist.